Gryphius und das schlesische Kunstdrama

Gryphius und das schlesische Kunstdrama
Gryphius und das schlesische Kunstdrama
 
Schlesien war der Ursprungsort des neuen deutschsprachigen Kunstdramas. Am Anfang stand die exemplarische Übersetzungsarbeit des Martin Opitz mit den Verdeutschungen von Senecas »Trojanerinnen« (1625) und Sophokles' »Antigone« (1636). Eigene Werke lieferten, seit der Mitte des Jahrhunderts, Andreas Gryphius, den man den »deutschen Sophokles«, und Daniel Casper von Lohenstein, den man den »deutschen Seneca« nannte. Schüler der beiden protestantischen Breslauer Gymnasien führten die Stücke auf.
 
»Indem vnser gantzes Vatterland sich nuhmehr in seine eigene Aschen verscharret / vnd in einen Schawplatz der Eitelkeit verwandelt; bin ich geflissen dir die vergänglichkeit menschlicher sachen in gegenwertigem / vnd etlich folgenden Trawerspielen vorzustellen.« Streng und lapidar eröffnet Gryphius solchermaßen seinen Erstling »Leo Armenius / Oder Fürsten-Mord«. Das Trauerspiel hatte einen Sitz im Leben. Die alte Gleichung vom Leben als Trauerspiel im Zeichen von Eitelkeit und Hinfälligkeit gewann angesichts des großen Krieges neues Gewicht. Die Tragödie wurde darüber zu einer Schule stoischer Moralität, zu einem Heilmittel gegen Unglück, Leid und Angst. Die hohen politischen Ämter, die die Autoren ausübten, schärften den Blick für das Getriebe der politischen Welt. Amtsethos und weltmännisch-politischer Geist zogen in die Stücke der Schlesier ein.
 
Kaum zu überbieten war unter diesen Umständen die Anregungskraft Senecas. Exemplarisch verkörperte er gleichermaßen den Hofmann, den stoischen Moralisten und den Tragödiendichter. So übernahm man von Seneca das Theater der Grausamkeit, die extreme Darstellung von Affekten, den rhetorischen Pomp, die Typik der Tyrannen- und Märtyrerfiguren. Opitzens Tragödiendefinition gleicht deshalb einem senecanischen Gräuelkatalog, handle doch die Tragödie »nur von Königlichem willen / Todtschlägen / verzweiffelungen / Kinder- und Vatermörden / brande / Blutschanden / kriege vnd auffruhr / klagen / heulen / seuffzen vnd dergleichen«. Eine Welt des Todes, besser: des Sterbens, kommt zu Gesicht. Auf offener Bühne ereignen sich Mord, Folter und Hinrichtung. Höchster Exponent solchen Geschehens ist der Souverän - als Tyrann wie als Märtyrer.
 
Jähe Umschläge regieren die Handlung und zeugen von der Macht der Fortuna. Nichts führt sie schlagender vor Augen als Fürstensturz und Fürstenmord. Das Gesetz von Höhe und Fall ist deshalb strukturbestimmend. Die Figuren selbst sprechen es in pointierten Sentenzen aus, zum Beispiel im »Leo Armenius«: »Wir steigen alß ein Rauch / der in der Lufft verschwindet: / Wir steigen nach dem fall / vnd wer die höhe findet. / Find't was jhn stürtzen kan.«
 
Nur einer vermag auf der Schädelstätte der Vergänglichkeit zu »stehen«, ja seinen politischen Sturz als Erhöhung zu begreifen, der Märtyrer. So erklärt der Papinian des Andreas Gryphius: »... wer meinen Fall beweint / Siht nicht wie hoch Ich sey durch disen Fall gestigen«. Am Souverän demonstrieren Fortuna und Vanitas ihre Gewalt. Der Märtyrer verkörpert die Gegenmächte, die, im Bündnis mit der göttlichen Vorsehung, Widerstand ermöglichen und »Ewigkeit« verheißen: Beständigkeit und ein »großer Geist«. Es handelt sich um die Grundtugenden des Stoikers, die sich für eine christliche Ausdeutung geradezu anbieten. So bekennt wieder der Papinian: »Wer hir beständig steht; trotzt Fleisch und Fall und Zeit, / Vermählt noch in der Welt sich mit der Ewigkeit. ..«. Und seine Catharina von Georgien nennt Gryphius »ein vor dieser Zeit kaum erhöretes Beyspiel von außsprechlicher Beständigkeit«. Gryphius teilte das Interesse an der Märtyrerfigur mit dem Jesuitentheater. Die Tradition der patristischen Märtyrerverehrung war ihm gut bekannt. Dazu stießen die Entwürfe eines christlichen Neustoizismus, der seit Justus Lipsius die von Konfessionskriegen aufgewühlten Geister anzog.
 
Eher unentschieden noch verharrt Gryphius' erstes Trauerspiel um den byzantinischen Kaiser-Usurpator Leo Armenius zwischen den Möglichkeiten des Tyrannen- und des Märtyrerdramas. »Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Beständigkeit« stellt dann die Einheit von Souverän und Märtyrer in ihrer reinen Form vor. Gefangen widersteht die georgische Königin den rasenden Werbungen und Affektstürmen des persischen Schahs Abas, begreift Folter und Tod als »Bewährung« durch ihren himmlischen Bräutigam, stirbt unverzagt als Braut Christi für ihren Glauben und ihr Land und vertauscht so die irdische mit der unvergänglichen Märtyrer-Krone. Der Tyrann endet im lodernden Höllenbrand seiner Affekte, die sein Opfer rächen.
 
Wie die »Catharina« so behandelt auch »Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus« einen zeitgenössischen Stoff, die Hinrichtung Karls I. im Jahr 1649. Nicht weniger aktuell sind die Probleme der Staatsräson und des Widerstandsrechts, die Gryphius am Beispiel des römischen Rechtsgelehrten Papinian bearbeitet. Die Welt der Politik wird in Gryphius' Trauerspielen reich instrumentiert. Die Konfliktlagen des sich formierenden Absolutismus sind gegenwärtig: Loyalität und Widerstand, Ausnahmezustand und Tyrannenmord, Volkssouveränität und Gottesgnadentum, die Reibungen zwischen Ethik und Staatsinteresse, die Konstellation des Bürgerkriegs. Doch das politische Feld bleibt eingespannt zwischen den Koordinaten Vergänglichkeit und Ewigkeit. Die oberste Regentin des Trauerspiels ist deshalb die Allegorie der »Ewigkeit«, wie sie im Prolog der »Catharina« die Bühne betritt, um den »Blinden«, Weltverhafteten die Augen zu öffnen. Ihre irdische Repräsentantin ist die Märtyrerin.
 
Anders liegen die Dinge bei Gryphius' Landsmann und Nachfolger Lohenstein. Der Märtyrer verschwindet aus seinem dramatischen Personal. An seine Stelle treten Akteure, Heroinen zumeist, die von unerhörten politischen und erotischen Energien umgetrieben werden - so die afrikanischen Herrscherinnen Cleopatra und Sophonisbe, die Römerinnen Agrippina und Epicharis, alle Protagonistinnen der gleichnamigen Trauerspiele. Mit den Märtyrern verliert auch der sinnstiftende Gegensatz von Vergänglichkeit und Beständigkeit seine Bedeutung. Stattdessen regiert die Klugheit (»Prudentia«) der großen Politiker, eine prudentistische Vernunft, die namentlich die kühlen Römer Augustus (in der »Cleopatra«) und Scipio (in der »Sophonisbe«), gegen die exotischen »Affektbündel« in Stellung bringen. Und auch für die »Ewigkeit« bietet Lohenstein einen Ersatz: das »Verhängnis«. Als Inbegriff einer politisch-theologischen Geschichtskonstruktion, der alle Akteure unterworfen sind, ist es eine geschichtssteuernde Macht, die in den siegreichen Römern schon den Glanz des habsburgischen Weltreichs aufscheinen lässt, den utopischen Gipfelpunkt der Geschichte. Vor diesem Horizont entscheiden sich Erfolg und Misserfolg des politischen Selbstbehauptungswillens, den Lohenstein an seinen Figuren durchspielt. Es macht den Rang seiner politischen Lehrstücke aus, dass sie dabei zumal den Unterliegenden Größe zubilligen.
 
Das Trauerspiel der Schlesier bildet keine in sich geschlossene, immanente dramatische Welt aus. Schon in seiner Anlage, dem Wechsel von »Abhandlungen« (Akten) und davon abgehobenen, meist allegorisch besetzten »Reyen« (Chören), bekundet es einen Willen zu Analyse und Deutung des Geschehens in einer überlegenen Perspektive. Offensichtlich gehorcht das Trauerspiel damit einem Gestaltungsprinzip, das auch die Emblematik beherrscht. Emblematisch gehört zum Bild die Auslegung, zur Sache die Signifikanz, zum Ereignis der Begriff. Und so verfährt auch der barocke Dramatiker: mit seinen Doppeltiteln (»Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Beständigkeit«), mit der Selbstdefinition der dramatischen Figuren (»Jhr Menschen schawt vns an«), mit der Fülle der eingestreuten Sentenzen, nicht zuletzt mithilfe der Reyen. Von kleinsten Einheiten, emblematisch inspirierten Metaphern und Argumenten (»Die Unglücks-Welle bricht am Tugend-Fels entzwey«), bis zur Großstruktur tritt das Formprinzip in Erscheinung, lässt die Bühne geradezu zu einem »Theatrum emblematicum« werden und erfüllt so deren hohen Anspruch: Welttheater zu sein.
 
Prof. Dr. Hans-Jürgen Schings
 
 
Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Beiträge von Wolfgang Beutin u. a. Stuttgart u. a. 51994.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Нужна курсовая?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Gryphius — Gryphius,   1) Andreas, eigentlich A. Greif, Dichter, * Glogau 2. 10. 1616, ✝ ebenda 16. 7. 1664; Sohn eines protestantischen Pfarrers; hatte nach dem frühen Tod der Eltern eine schwere Kindheit; besaß aufgrund seiner vorzüglichen Ausbildung… …   Universal-Lexikon

  • deutsche Literatur. — deutsche Literatur.   Der Begriff »deutsche Literatur« umfasst im weitesten Sinne alles in deutscher Sprache Geschriebene; in diesem Sinne wird er jedoch nur für die Frühzeit der deutschen Literaturgeschichte verstanden, in der auch noch… …   Universal-Lexikon

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”